Pflege muss wieder ein neues Gesicht bekommen

Die Fragilität in der pflegerischen Versorgung ist insbesondere in Zeiten der COVID19-Pandemie offen zu Tage getreten. Die stationären Versorgungsstrukturen reichen im Extremfall einer Pandemie nicht aus, infektionsbedingte Personalausfälle oder in Folge der geschlossenen Kitas und Grundschulen, sowie die mangelnde Finanzierung von Optionsgütern – auch Vorhaltestrukturen genannt – haben das Gesundheitssystem seit einem Jahr nachhaltig destabilisiert. Die eminente Bedeutung der Pflegefachkräfte und deren besondere Bedeutung für uns alle ist der aktuellen Krise deutlicher denn je zuvor.

Ursprünglich hat man mit der Einführung des Diagnosis-Related-Groups in 2003 eine grundsätzlich ökonomisch richtige Antwort auf das vormals herrschende Krankenhausvergütungsverfahren getätigt. Hatte man zunächst bei der Vergütung über tagesgleiche Pflegesätze jeden Patienten grundsätzlich über das Wochenende im Krankenhaus behalten und jede Diagnostik im Haus gemacht, war die Folge, dass in Deutschland überdurchschnittliche Verweildauern und ein ineffizienter Ressourceneinsatz zu beobachten waren. Anreizkompatibel hat man den Krankenhaussektor entsprechend eingeordnet und zu einer Umbruchsituation der Krankenhauslandschaft beigetragen. Dies führte zwangsläufig zu einer Marktbereinigung und innerbetrieblichen Prozessoptimierungen. Kleinere Häuser wurden geschlossen oder in geriatrische Einrichtungen umgewandelt, kostenträchtige, nicht rentable Bereiche wurden im Benchmarking mit den Nachbarkliniken geschlossen. Der ärztliche Bereich wurde in den Folgejahren ausgebaut, da Fallzahlen Einnahmen generieren. Der ärztliche Bereich wurde somit zum produktiven Element der klinischen Versorgung. Diametral gegensätzlich verhielt sich die Entwicklung des nicht-ärztlichen Personals. Die zwangsläufige Besinnung der Kliniken auf die Kernkompetenzen führte zu umfänglichen Outsourcing-Strategien, die ein wirtschaftlich geführtes Unternehmen tätigen muss. Darüber hinaus wurde in den Folgejahren das Pflegepersonal sukzessive abgebaut, da es unter dem neuen Vergütungsverfahren nunmehr ein „nicht-produktives“ Element der Wertschöpfung ist, da es ja nur „versorgt“. Waren die Ursprünge der Krankenpflege von miseracordia geprägt, wurde diese nun zum reinen Kostenfaktor.

Mittlerweile versucht man die vergangenen Fehler im Rahmen der konzertierten Aktion Pflege insoweit zu korrigieren, da ein Pflegebudget eingeführt wurde, mit dem die Kosten des Pflegepersonals in den Krankenhäusern aus den DRG´s heraus gerechnet wurden, was grundsätzlich die Möglichkeit bietet weiteres Pflegepersonal zu einzusetzen. Flankiert wird dies jedoch durch eine ungünstige demografische Entwicklung, insbesondere in den ostdeutschen Bundesländern, wo es in Zukunft immer schwieriger wird, motivierten und geeigneten Nachwuchs zu generieren. Zudem sind die Unattraktivitäten des Berufs durch Schichtdienst, schlechten Verdienst- und Aufstiegsmöglichkeiten, einer körperlich und psychisch durchaus belastenden Arbeit hinlänglich bekannt und wirken auf potentielle Bewerber abschreckend. Erschwerend kommt hinzu, dass der Nachwuchs der Generation Z zuzuordnen ist, bei denen der Beruf an zweiter Stelle steht, hingegen das Streben nach persönlicher Entfaltung deutlich höher eingeschätzt wird.

Des Weiteren gibt es seit letztem Jahr Personaluntergrenzen für pflegesensitive Bereich der Krankenhäuser, die aber nicht pflegebedarfsgerecht, sondern normativ gesetzt wurden. So orientiert man sich beispielsweise derzeit an einem Schlüssel (Patient:Personal) von 10:1 in der Geriatrie. Damit kommen wir zum eigentlichen Kern des Problems. Empirisch können wir beobachten, dass die häufigste Kategorie der von COVID19 Betroffenen mit schweren Verläufen – und entsprechend auch den später Verstorbenen – bei den über 80-jährigen liegt. Ebenfalls können wir auch beobachten, dass die Mortalität ab dem 60.ten Lebensjahr steigt. Der Pflegeaufwand bei COVID19 Patienten liegt bei der dargestellten Klientel aufgrund des schlechten Allgemeinzustandes um ein Vielfaches höher im Vergleich zu „normalen“ geriatrischen Patienten, die mit dem o.g. Personalschlüssel bereits nicht adäquat versorgt werden können. Die Folgen sind chronische Überlastung, Frustration und Resignation bis hin zum Burnout beim Pflegepersonal.

Das hier entstandene Spannungsfeld zwischen ökonomischen Restriktionen und ethisch-moralischen Grundsätzen in einer entwickelten Gesellschaft ist ein Dilemma, aus Sicht des Einzelnen sogar eine nicht auflösbare Aporie. Der legitime Anspruch eines Patienten auf eine umfassende pflegerische Versorgung kann ebenso wenig eingelöst werden, wie die seit Jahren seitens des Pflegepersonals existenten Forderungen nach einer angemessenen Vergütung, einer Optimierung der Arbeitsbedingungen, einer Verbesserung der personellen Lage, verbunden mit dem Bedürfnis die eigene Pflege am Patienten professionell und zufriedenstellend erbringen zu können. Zu den gegenwärtigen Bedingungen ist Pflege kein attraktiver Beruf, obwohl die meisten, die den Beruf ausüben, das Moment der unmittelbaren Fürsorge und Resonanz als sehr sinnstiftend erleben. Wenn Fürsorge und Resonanz aber aufgrund der Arbeitsbedingungen zunehmend auf der Strecke bleiben und Pflegende ihre eigenen professionellen Standards permanent unterlaufen müssen, verlassen sie den Beruf bzw. wandern sie ab.

Um dieses Spannungsfeld auflösen zu können, helfen die Überlegungen von John Rawls, die er in der „Theorie of justice“ (1971) gemacht hat. Faire Regeln in einer Gesellschaft werden gefunden, wenn sich der Einzelne in einen Schleier des Nichtwissens hüllt und niemand mehr weiß, ob er zu den Gewinnern oder Verlierern in der Gesellschaft gehört. In diesem hypothetischen Zustand erfolgt der Diskurs darüber, wie viel uns Pflege wert ist und welche pflegerische Versorgung – vor dem Hintergrund einer alternden Gesellschaft wir als notwendig erachten. Dies inkludiert Fragen der unterstützenden Pflege, um möglichst lange mobil und eigenständig zu bleiben, aber auch, ob man eine Sterbebegleitung als notwendig erachtet. Auf diese Weise können wir das beschriebene Dilemma auflösen.

Das Klatschen auf den Balkonen war sicherlich ein wichtiges Signal der Wertschätzung in weiten Teilen der Bevölkerung. Es ist ebenfalls bereits einiges an Maßnahmen angestoßen worden, die in die richtige Richtung gehen, um gesundheitspolitische Fehler der Vergangenheit zu korrigieren. Diese Bemühungen müssen aber weiterverfolgt und intensiviert werden, da der Großteil der Aufgaben noch vor uns liegt. Der gesellschaftliche Diskurs muss jetzt geführt werden, um den Pflegenden und Gepflegten tatsächlich mehr Gehör und Wertschätzung zu verschaffen, auf das sie lange verzichten mussten.

Was bedeutet in diesem Sinne Wertschätzung? Sicherlich ist zunächst an eine angemessene, tarifliche Bezahlung zu denken, die sich an der Bezahlung von Fachkräften in anderen Branchen orientieren sollte. Eine damit einhergehende Gleichbezahlung von Pflegenden – Menschen die die die gleiche Arbeit leisten, sollten auch dasselbe Geld verdienen und nicht den Zufällen schwankender Pflegesatzverhandlungen bzw. Renditeerwartungen von Aktionären entsprechend vergütet werden. Aber das ist nicht alles – in der Vergütung drückt sich ja nur aus, dass personenbezogene Dienstleistungen als weniger wertvoll und „produktiv“ betrachtet werden, als bspw. die Produktion von Maschinen, KFZ oder – auch das Umschlagen von Waren. Es sollte ins Bewusstsein rücken, dass die Arbeit mit lebenden (und auch mit sterbenden) Menschen, gesellschaftlich gesehen, (mindestens) genauso wertvoll ist, wie die Produktion von materiellen Gütern.

christian

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